6. Forum für literaturwissenschaftliche Japanforschung
Konferenz @Institut für Ostasienwissenschaften, Universität Wien | 08.-9. Juni 2018
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Das Forum für literaturwissenschaftliche Japanforschung versteht sich als Zusammenschluss von Japanwissenschaftler*innen, für die die Arbeit mit japanischsprachigen Quellen zentral und unverzichtbar ist. Im Mittelpunkt des Interesses stehen literarische Werke in weitem Sinne; das Forum ist jedoch grundsätzlich offen für Themen aus den Wissenschaftsbereichen Sprache und Translation, Philosophie und Religion, Kunst und Kultur, Bild und Objekt, (Global)Geschichte und aus Querschnittswissenschaften – die z. B. Fragen zu Geschlecht, Ökologie, Diversität beforschen – sowie für weitere inter- und transdisziplinäre Zugänge. Literaturwissenschaft wird hierbei als textanalytische Kernkompetenz verstanden, die über den Gegenstand „Literatur“ im engeren Sinne hinaus als Grundlagenmethodik relevant ist.
Das Forum soll zum einen der Koordination bestehender wissenschaftlicher Aktivitäten dienen, zum anderen aber auch ein Ort sein, an dem literaturwissenschaftlich arbeitende Japanwissenschaftler*innen aller Qualifikationsstufen sich und ihre Arbeiten vorstellen können.
Bericht
Die Organisatorinnen Tamara Kamerer, Christina Polak-Rottmann und Ina Hein veröffentlichten einen Bericht zum Forum in der Minikomi Nr. 88 (2021). Dieser kann hier gelesen werden.
Daten
- Freitag, 08. Juni 2018, 13:30~18:00 Uhr
- Samstag, 09. Juni 2018, 10:30~18:00 Uhr
Programm
Tag 1 – Freitag, 08. Juni 2018
- 13:30~13:45: Begrüßung
Ina Hein - 13:45~14:30: Räume des Wandels in Werken von Yoshimoto Banana und Murata Sayaka
Ronald Saladin - 14:30~15:15: Loss, memories, subjectivity and kigō: The travel writings of Murakami Haruki
Yuqi Chen - 15:15~15:30: Kaffeepause
- 15:30~16:15: Dansō-no-reijin – Das changierende Konzept in der Manga-Welt
Akiko Yamada - 16:15~17:00: Ein Multimedium: Ken-Spielanleitungen als Quellen für Kultur-, Literatur-, Sozial- und Kunstgeschichte
Sepp Linhart - 17:00~17:15 Kaffeepause
- 17:15~18:00: Überlegungen zur aktuellen Lage von Literaturstudien. Länderspezifische Ansätze, Kondensat kommunikativer Praktiken und die Frage nach einer kritischen Japanforschung
Lisette Gebhardt
Tag 2 – Samstag, 09. Juni 2018
- 10:30~11:15: Die Bedeutung der shinsaibungaku: Tawada Yōkos Kentōshi als ein dystopischer Roman
Michiko Mae - 11:15~12:00: Literatur und Populärkultur als iyashi: Die Atomkatastrophe im Kinderbuch und Fernsehdrama Hula gāru to inu no Choko
Hilaria Gössmann - 12:00~14:00: Mittagspause
- 14:00~15:00: "Moderne"? "Globalisierung"? "Post-Bubble Japan"? Überlegungen zur Produktivität von Epochenbegriffen und deren Konjunkturen für die literaturwissenschaftliche Japanforschung
Evelyn Schulz und Carolin Fleischer - 15:00~15:45: Literarische Figuren als Gegenstand narratologischer Textanalysen: Methoden und Modelle am Beispiel früher Erzählungen Nagai Kafūs (1879–1959)
Martin Thomas - 15:45~16:15: Kaffeepause
- 16:15~17:15: Projektvorstellung: "Time in medieval Japan"
Alexandra Ciorciaro und Vroni Ammann - 17:15~18:00: Abschlussbesprechung
Contributors & Abstracts
- Titel: Projektvorstellung:„Time in medieval Japan“
- Abstract:
Die menschliche Existenz ist fundamental durch die Dimension des Zeitlichen bedingt. Im Verlauf der Geschichte und über verschiedene Kulturen hinweg haben Gesellschaften Zeit auf unterschiedliche Art und Weise verhandelt. „Zeit“ verweist nicht nur auf das heute vorherrschende Konzept quantifizierter, linearer Zeit, sondern deutet auf eine Vielfalt kulturell konstruierter Aspekte hin (wie etwa unterschiedliche Zeiteinheiten, Zeitnutzung, Zeiterfahrung etc.).
Das Forschungsprojekt „Time in Medieval Japan“ (TIMEJ) untersucht diese vielfältigen Zeitlichkeiten in der differenzierten Gesellschaft des mittelalterlichen Japans (12.–15. Jahrhundert). Es untersucht verschiedene soziale Sphären des Mittelalters, die von verschiedenen symbolischen Formen dominiert sind: Religion, Literatur, Wirtschaft und Medizin. Dieser Beitrag geht exemplarisch auf zwei dieser sozialen Sphären ein: Fallbeispiel a) untersucht den Kriegeradel und das Bakufu anhand verschiedener Texte, die im Mittelalter von dieser Gesellschaftsschicht produziert wurden. Es untersucht die Chronographie des Tagebuchs Kenji sannen ki 建治三年記 (Ōda Yasuari, 1277) und zieht Vergleiche zu weiteren Dokumenten und der Art und Weise, in der Zeitausdrücke in diesen zum Tragen kommen. Obwohl man sich auf solche Texte zur historischen Dokumentation des Kriegeradels bezieht, haben sie als literarische Texte nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Fallbeispiel b) beschäftigt sich mit der sozialen Sphäre des Handels und des Marktes, indem die Konsumentenseite gekaufter Räucherwaren und Duftstoffe als Teil der Fragestellung näher beleuchtet wird. Anhand des Textes Gofushimi inshinkan takimonohō 後伏見院宸翰薫物方 (Gofushimi tennō, Anfang des 14. Jahrhunderts) werden unter anderem die zeitlichen Abläufe in Zeremonien untersucht. Auch der Frage nach der Verwendung von Räuchermischungen in spezifischen Zusammensetzungen und zu festgelegten Zeiten und Zeitabschnitten wird dabei nachgegangen.
Die beiden Fallbeispiele geben Aufschluss darüber, welchen konkreten Fragestellungen das TIMEJ-Projekt nachgeht und wie die Quellentexte danach befragt werden. Ferner zeigen sie auf, wie sich Zeit – eine Kategorie, die oftmals als absolute Grösse gesehen wird – aufgrund unterschiedlicher sozialer Ansprüche auf vielfältige Weise manifestiert.
- Titel: Loss, memories, subjectivity and kigō: The travel writings of Murakami Haruki
- Abstract:
Through a close reading of Murakami’s travel writings, in particular a comparative analysis of the account of his travel in China and Mongolia with other travel accounts, this presentation investigates the essential elements of Murakami’s travel writings: the loss of self, the repressed memory, individual subjectivity, and the important kigō. By looking at the blurred boundary between reality and fiction, this presentation’s overarching goal is to examine how Murakami’s perception of China is revealed through his real encounter with China and to help understand how the author’s sojourn abroad and the trip to China, which the author refers to as his second revelation precipitate the author’s “supernatural” turn from detachment to commitment to Japan’s historical reality..
- Titel: Theatre and gendered spaces: Examining the visual representation of Takarazuka revue’s gender roles
- Abstract:
Wo steht die deutschsprachige japanologische Literaturwissenschaft? Das „Forschungsobjekt“ Literatur erreicht sukzessive verschiedene Dimensionen der Geschichtlichkeit, das Ende der Ära „Heisei-Literatur“ steht unmittelbar bevor. Neuere literaturgeschichtliche Ansätze zumindest auf dem Feld der Literatur nach 1945 bzw. der Gegenwartsliteratur (gendai bungaku) gibt es nur wenige. Mit der zeitgeschichtlichen Phasenverschiebung ginge jedoch die japanologische Aufgabe einher, Autoren und Texte einer Relektüre zu unterziehen, ebenso wie es ratsam wäre, Forschungs- und Fachgeschichte fortzuschreiben.
Während man die geschichtliche Ebene weitgehend ausgespart, bleiben auch andere umfassendere Ansätze größtenteils vernachlässigt. Geforscht wird meist punktuell, wobei die Themenwahl relative begrenzt ist und selten innovativ ausfällt. Eine neue lebendige Forschungslinie der rezenten deutschsprachigen japanologischen Literaturforschung ist schwer auszumachen, viele Arbeiten orientieren sich – mehr als Kondensat kommunikativer Praktiken, denn als offene Debatte im Fach – am anglophonen Muster, obschon sich der vergleichende Blick etwa zur französischen Forschung schon aus Gründen der Relativierung einer von der amerikanischen Seite demonstrierten Diskurshoheit lohnen würde. Insgesamt ist hierzulande eine gewisse Stagnation eingetreten, die nur selten durchbrochen wird – was auch den allgemeinen Veränderungen der akademischen Landschaft jenseits der Ordinarienuniversität zuzuschreiben wäre. Die Zeit ist reif für eine Bilanzierung. Für die Suche nach möglichen Zukunftsperspektiven. Nicht zuletzt deshalb, weil Fremdbestimmung keine wünschenswerte Option darstellt. In einer Ära, in der (wieder?) verstärkt Einflussnahme durch externe Finanzierungsangebote erfolgt, sollte das Fach ebenso selbstbewusst wie unabhängig sein. Kritische Forschung darf gerade in der Ära Abe und nach einem Ereignis wie „Fukushima“ nicht eingeschränkt werden, wie auch Intellektualität und philologisch-sprachliche Sensibilität idealerweise zu bewahren sind.
- Titel: Literatur und Populärkultur als iyashi: Die Atomkatastrophe im Kinderbuch und Fernsehdrama „Hula gāru to inu no Choko“
- Abstract:
Bei der Auseinandersetzung mit der Dreifachkatastrophe finden sich häufig Beispiele von „Trost und Wiederaufbautexten“, womit Lisette Gebhardt eine Tendenz literarischer Werke kurz nach 3.11 bezeichnete. Hierzu zählt auch das 2012 erschienene Kinderbuch Hula gāru to inu no Choko (Das Hulagirl und ihr Hund Choko), das auf der wahren Geschichte einer Hula-Tänzerin des Freizeitparks „Hawaians“ in der Präfektur Fukushima basiert. Es schildert die Atomkatastrophe u.a. aus der Perspektive ihres in der Evakuierungszone zurückgelassenen Hundes. Dies geschieht auf sensible und kindgerechte Weise, wobei auch die Gefahr von Radioaktivität vorsichtig zur Sprache kommt.
Im Bereich der Populärkultur erschienen schon sehr früh Manga über die Dreifachkatastrophe, während diese in Fernsehdramen zunächst ausgespart blieb. Stattdessen ging es – ähnlich wie in Sweet Hereafter von Yoshimoto Banana – um Verlusterfahrungen und Traumata durch den Tod nahestehender Menschen. „Hula gāru to inu no Choko“, das auf dem gleichnamigen, o.g. Kinderbuch basiert und vom Sender Terebi Tokyo zum 4. Jahrestag ausgestrahlt wurde, ist das bisher einzige Fernsehdrama, das sich direkt mit der Atomkatastrophe auseinandersetzt. Hier liegt der Fokus auf den Hula-Tänzerinnen und ihrem Engagement für die Region. Die Gefühle der Betroffenen nicht zu verletzen und ihnen sowie dem Fernsehpublikum Trost zu spenden, scheint das Anliegen der Produktionsseite zu sein. Stärker noch als in der Literaturvorlage steht hier iyashi im Vordergrund, was auf Kosten einer kritischen Auseinandersetzung geht, wie sie sich etwa in Kinofilmen über die Atomkatastrophe findet.
Im Vortrag sollen die beiden Versionen von „Hula gāru to inu no Choko“ miteinander verglichen und unterschiedliche Lesarten herausgearbeitet werden. Zu fragen ist u.a., inwiefern verschiedene Perspektiven sowie Strategien und Möglichkeiten der Bewältigung der Krisensituation angesprochen werden und somit über die tröstende Funktion hinaus ein Beitrag zur Bewahrung der Erinnerung an die Katastrophe geleistet wird. Ziel ist es anhand der Analyse der Fallbeispiele Potential und Grenzen der Auseinandersetzung mit „Fukushima“ in unterschiedlichen Genres zu diskutieren.
Der Vortrag basiert auf der gemeinsamen Forschung mit Akiko Hayashi (Chūo daigaku) sowie studentischer Analysen an der Japanologie Trier.
- Titel: Ein Multimedium: Ken-Spielanleitungen als Quellen für Kultur-, Literatur-, Sozial- und Kunstgeschichte
- Abstract:
Im Frühjahr 1988, also ziemlich genau vor dreißig Jahren, begann ich mich für das Thema Ken-Spiel zu interessieren und darüber zu forschen. Im Verlauf dieser 30 Jahre schrieb ich zum Thema Ken ein Buch in japanischer Sprache und 23 Aufsätze, 8 auf Japanisch, 8 auf Englisch und 7 auf Deutsch, insgesamt etwa 750 Druckseiten. Derzeit beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung einer großzügig erweiterten Fassung des japanischen Buches auf Deutsch. Das soll nur veranschaulichen, wieviel man über Ken schreiben kann. Bis 1988, damals war ich immerhin, wenn man meine Studienzeit inkludiert, bereits seit 25 Jahren in der Japan-Forschung tätig, hatte ich keine Ahnung, dass Ken existiert und welche Bedeutung es einst gehabt hatte.
Heute kann ich sagen, dass Ken von der Mitte des 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, also durch 200 Jahre hindurch, das verbreitetste und beliebteste Spiel in Japan war. Mittlerweile hat es hauptsächlich Bedeutung als Mittel zum Herbeiführen einer Entscheidung in Form des nun in der ganzen Welt verbreiteten „Schere, Stein, Papier“.
Auf Grund seiner großen Bedeutung nimmt es nicht Wunder, dass beginnend im Jahr 1771 einige Ken-Spielanleitungen (shinansho) existieren, die für die Erforschung des Spieles wichtige Quellen darstellen, darüber hinaus aber eine Fülle von Materialien enthalten, die für Erkenntnisse über die japanische Kulturgeschichte äußerst wertvoll sein können. Die Texte beschränken sich nicht nur auf eine Einführung in das Spiel und die Darlegung seiner Regeln, wie man heute vermuten würde, sondern enthalten eine Fülle von Anmerkungen über das Spiel. Ich möchte in meinem Referat etwa ein halbes Dutzend dieser in Buchform erschienen Spielanleitungen aus der Zeit von 1771 bis 1997 vorstellen und analysieren. Mit dieser chronologischen Darstellung sollte es auch gelingen zu zeigen, wie sich der Zugang zu dem Spiel im Laufe der Zeit geändert hat. Als wichtigste Analysepunkte möchte ich erstens die Analyse der Illustrationen (Bilder als Texte), zweitens die Analyse der literarischen Texte, die in den Spielanleitungen enthalten sind (vornehmlich Gedichte), und drittens die kulturwissenschaftlichen Aspekte in den Texten der Spielanleitungen, anführen.
Obwohl es sich bei den genannten Spielanleitungen um ‚triviale Texte‘ handelt, die für jedermann/jedefrau bestimmt waren, stellen sie für den heutigen Leser eine beträchtliche Herausforderung dar und setzen eine Kenntnis verschiedenster Bereiche der japanischen Kulturgeschichte voraus.
- Titel: Die Bedeutung der shinsaibungaku: Tawada Yōkos „Kentōshi“ als ein dystopischer Roman
- Abstract:
Sieben Jahre nach der dreifachen Katastrophe in der Tōhoku-Region im Jahr 2011 redet man in der japanischen Gesellschaft kaum mehr darüber, obwohl sich die Situation der Opfer nicht wesentlich verbessert hat. Andererseits sind in den letzten Jahren immer mehr literarische, künstlerische, filmische, populärkulturelle Werke entstanden, die sich mit dem folgenschweren Geschehnis, das die japanische Gesellschaft grundlegend verändert hat, auseinandersetzen. Was kann die Literatur in einer solchen Situation leisten? Dies ist eine entscheidende Frage, die man sich immer wieder stellen muss. In der Vielfalt der literarischen Werke erkennt man sehr unterschiedliche Weisen der Auseinandersetzung verschiedener Autoren und Autorinnen mit der Katastrophe zwischen Entsetzen, Trauer, Verzweiflung und Wut. Einige Jahre nach der Katastrophe gibt es nach diesen ersten unmittelbaren emotionalen Reaktionen eine etwas andere Art von literarischer Verarbeitung, die das Geschehen nicht als einen zufälligen Unfall, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Strukturproblematik kritisch reflektieren und sich damit auseinandersetzen. Man erkennt das auch an der Veränderung in den literarischen Ausdrucksweisen dieser Werke und dabei spielt das Genre der dystopischen Literatur eine große Rolle.
Beispiele dafür sind Yoshimura Man’ichis Borādo byō (2014), Kirino Natsuos Baraka (2016) und Tawada Yōkos Kentōshi (2014). Trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen diese Werke, über die unmittelbaren Reaktionen auf die Katastrophe hinaus, kritischer reflektierte und konsequentere Thematisierungen der problematischen Gesellschaftsstruktur in Japan. Besonders möchte ich das Werk Kentōshi genauer betrachten und analysieren, mit welchen literarischen Mitteln die Autorin Tawada das ungeheuerliche Ausmaß der Veränderung zur Sprache bringt.
Auffallend ist, dass Tawada in dem Roman die Atomkatastrophe mit keinem Wort erwähnt; es wird nicht erklärt, was eigentlich geschehen ist, die veränderte Welt ist einfach da: Alte Menschen können nicht sterben und Kinder sind krank, schwach und überlebensunfähig. Die alte Welt existiert nicht mehr und ebenso die alte Weltordnung. Dennoch wird diese dystopische Welt bei Tawada nicht nur als eine düstere und hoffnungslose Welt beschrieben, sondern teilweise ironisch und sogar humorvoll.
In meinem Beitrag möchte ich Tawadas Kentōshi als ein dystopisches Werk analysieren und fragen, wieweit sie das kritische Potenzial der dystopischen Narrative nutzt und was sie mit ihren besonderen literarischen Mitteln in ihrem Roman als einem Werk der shinsaibungaku leistet.
- Titel: Räume des Wandels in Werken von Yoshimoto Banana und Murata Sayaka
- Abstract:
Der Raum als Analysegegenstand ist nicht erst in den letzten Jahren in den Fokus der Literaturwissenschaft geraten. Der spatial turn hat die Analyse von Räumen in der Literatur allerdings nun programmatisch für die Kultur- und Literaturwissenschaft geöffnet und erlaubt damit zu verdeutlichen, wie sich, insbesondere im gesellschaftlichen Kontext, die gestaltenden bzw. subversiven Möglichkeiten von Literatur in den entsprechenden Texten manifestieren.
In meinem Beitrag möchte ich drei Werke daraufhin untersuchen, inwiefern hier Räume als Orte der Begegnung, des Wandels und der Entwicklung konzipiert werden. Es handelt sich dabei um „Kitchen“ sowie das damit zusammen erschienene „Moonlight Shadow“ (beide 1988) von Yoshimoto Banana sowie die Erzählung Konbini ningen (2016) von Murata Sayaka. Bereits die Titel zweier der Werke nehmen dabei deutlich Bezug zu einem Ort – die Küche im Falle von Kitchen und ein convenience store bei Konbini ningen – und weisen dadurch auf die Notwendigkeit einer Analyse der literarischen Räume hin.
„Kitchen“ wurde bereits ausführlich erforscht und dabei vieles über die Bedeutung der Küche herausgearbeitet. In diesem Vortrag werde ich, an diese Forschung anknüpfend, die Bedeutung der Küche insbesondere als Ort der Begegnung erörtern, der – in der Erzählung selbst – einerseits real und manifest ist, andererseits aber metaphorisch den seelischen Zustand der Protagonistin veranschaulicht. Damit wird die Küche zum Raum persönlicher Entwicklung. Das gemeinsam mit „Kitchen“ erschienene „Moonlight Shadow“ konzipiert mit der Brücke über den Fluss einen der realen Welt entrückten Ort der Begegnung. So wie in dieser Erzählung die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten verschwimmen, wird deutlich, dass Literatur durch eine parallel verlaufende Vielzeitigkeit reale Räume verformen und damit auch zu metaphysischen Orten der Begegnung und Entwicklung machen kann. Auch in dem Roman Konbini ningen übernimmt besagter convenience store zentrale narrative Funktionen. So ist er nicht nur Hauptort der Handlung, sondern gleichsam Allegorie der Gesellschaft mit all ihren Ordnungsfunktionen und normativen Handlungsabläufen. Hier wird der Handlungsort zu einem Raum der Begegnung und Selbsterkenntnis, der am Ende sogar einen finalen göttlichen Schöpfungsakt ermöglicht. Allen drei Werken ist gemein, dass sie real existierende Orte in metaphysische Orte der Begegnung und damit einhergehender Persönlichkeitsentwicklung machen. - Affiliation: Ochanomizu University, Japan
- Titel: „Moderne”? „Globalisierung”? „Post-Bubble Japan”? Überlegungen zur Produktivität von Epochenbegriffen und deren Konjunkturen für die literaturwissenschaftliche Japanforschung
- Abstract:
Kobayashi Nobuhiko (geb. 1932) verfasste über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren eine autobiografische Tetralogie, in deren Mittelpunkt die Veränderungen Tōkyōs stehen. Die Überschrift des letzten Kapitels des vierten Bandes, Watashi no Tōkyō chizu = My Tokyo Map (2013), lautet „Tōkyō wa mada fushinchū“ („Tokio ist noch im Umbau”), eine Anspielung auf Mori Ōgais (1862-1922) berühmte Erzählung Fushinchū (Im Umbau, 1910). Deren Hintergrund bilden die vielfältigen Modernisierungsprozesse, die damals Form annahmen und bis heute andauern. Dieses Ōgai-Zitat kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Kobayashi „sein“ Tōkyō innerhalb des Moderneparadigmas situiert.
Neben dem Begriff der „Moderne“ (kindai), der von der Meiji-Zeit bis heute von großer Wirkkraft ist und seit geraumer Zeit eine neue Konjunktur erfährt, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten weitere Begriffe herausgebildet, deren Mehrdeutigkeit und Ambivalenz zu komplexen Debatten und Diskursen führten. Dazu zählen neben „Nachkriegszeit“, „Internationalisierung“ (kokusaika) und „Globalisierung” (gurobaruka) die neueren Begriffe „Post-Bubble Japan”, „Post-Fukushima Japan” und „Post-Growth Japan“. Sie werden je nach Verwendungszusammenhang als Zeithorizont und Epochenmodell, als System oder als Entwicklungsmodell verstanden und verweisen damit auch auf konkurrierende Modernitätsvorstellungen.
Über Epochenbegriffe, die für die literaturwissenschaftliche Japanforschung immer mindestens als zugleich leitend-strukturierend und als restriktiv in Erscheinung treten, möchten wir in Form eines Impulsreferats und anhand folgender Fragen nachdenken:
1. Welche Faktoren zeichnen verantwortlich für die andauernde Dominanz des Begriffs „Moderne“?
2. Welchen Mehrwert kann es für die literaturwissenschaftliche Japanforschung haben, sich mit den o. g. Begriffen zu befassen? Wie sind sie heuristisch wirksam? Worin liegt ihr hermeneutisches Potenzial?
3. Und wie anschlussfähig machen sie die japanologische Forschung an interdisziplinäre Kontexte tatsächlich?
4. Verengen diese auch als Zäsuren verstandenen Begriffe den Blick auf die literarische Produktion in Japan oder erweitern sie diesen?
5. Wie können miteinander konkurrierende, sich überschneidende oder sich widersprechende Begriffe sinnvoll eingesetzt werden?
- Titel: Literarische Figuren als Gegenstand narratologischer Textanalysen: Methoden und Modelle am Beispiel früher Erzählungen Nagai Kafūs (1879-1959)
- Abstract:
Literarische Figuren gehören als Handlungsträger zu den konstituierenden Elementen fiktionaler Erzählungen. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für das Verstehen narrativer Texte wird ihnen von der Literaturwissenschaft seit jeher besondere Beachtung geschenkt. Auch das Rezeptionsinteresse vieler Leser gilt häufig den Figuren eines Textes, deren Motivation sie zu ergründen versuchen und die sie zur emotionalen Anteilnahme, sei es über Formen der Identifikation und Empathie oder konkrete Bewertungs- und Situationsemotionen, einladen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass stetig neue Abhandlungen zum Gegenstandsbereich der literarischen Figur erscheinen und auch in den zahlreichen Überblicksdarstellungen zur Erzähltextanalyse zumeist gesondert Bezug auf Kategorien zur Beschreibung literarischer Figuren genommen wird.
Ausgehend von diesem Sachverhalt verfolgt der Vortrag zwei grundlegende Ziele: Zum einen soll ein allgemeiner Überblick über verschiedene Theorien zur Betrachtung literarischer Figuren und die ihnen eigenen Methoden gegeben werden. Hierbei wird der Fokus insbesondere auf rezeptionstheoretisch und kognitionswissenschaftlich orientierte Ansätze gelegt, welche literarische Figuren als mentale Modelle beschreiben, die der Leser schrittweise im Verlauf der Lektüre anhand von Textinformationen (bottom-up) und Inferenzen (top-down) bildet. Der für die Inferenzbildung notwendige Rückgriff auf kultur- und epochenspezifische Wissensbestände sowie die sich hieraus ergebende Kontextbezogenheit dieser Ansätze spiegeln dabei ihre durchaus vorhandene Nähe zu anderen literaturwissenschaftlichen Verfahren wie der klassischen Hermeneutik, der literarischen Diskursanalyse oder der kulturwissenschaftlichen Narratologie wider.
Zum anderen sollen die vorgestellten Methoden am Beispiel früher Erzählungen des Autors Nagai Kafū (1879-1959) konkrete Anwendung erfahren, um die erkenntnistheoretischen Potentiale einer gezielten Betrachtung der Konzeptionen und Konstellationen literarischer Figuren in fiktionalen Texten offenzulegen. Es wird versucht, auf diese Weise einen Beitrag zur theoriegeleiteten Diskussion innerhalb literaturwissenschaftlicher Japanforschung zu leisten und darüber hinaus zu zeigen, welche neuen Ebenen vermeintlich hinreichend erforschter Texte sich mittels postklassischer Figurenanalysen erschließen lassen. Im Falle Kafūs scheinen hier insbesondere Typisierungs- und Individualisierungsstrategien innerhalb der Figurendarstellung eine wichtige Rolle zu spielen, die im Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse im Zuge der Modernisierung seit der Meiji-Restauration zu verorten sind und zumeist an bestimmte Menschenbilder und Persönlichkeitstheorien anknüpfen.
- Titel: Dansō-no-reijin: Das changierende Konzept in der Manga-Welt
- Abstract:
Diese Präsentation ist ein Ausschnitt aus dem musikwissenschaftlichen Forschungsprojekt über eine Manga-Biographie Mozarts, welches im Rahmen des Gender/Queer-Projekts an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien läuft. Der Ausgangpunkt der Forschung ist das japanische Manga Mademoiselle Mozart, welches Ende der 1980er Jahre vom manga-ka/マンガ家 (Manga-Autor) Yōji Fukuyama verfasst wurde. Die Grundlage dieses Story-Mangas ist eine Biografie über Wolfgang Amadeus Mozart. Aber Mademoiselle Mozart ist insofern besonders, weil Mozart in diesem Manga nicht als Mann, sondern als Frau, nämlich als dansō-no-reijin/ 男装の麗⼈ (männlich verkleidete Schönheit) dargestellt wird. Die Hauptfigur Elisabeth Maria Mozart ist als Tochter des Salzburger Kapellmeisters Leopold Mozart geboren, jedoch lebt und wirkt sie als Komponist Wolfgang Amadeus Mozart. Dabei ist interessant, dass der manga-ka das Konzept dansō-no-reijin, welches sich hauptsächlich im Bereich des shōjo-Mangas/少⼥マンガ (Manga für Mädchen) entwickelt hat, ins andere Genre des Mangas, nämlich ins seinen-Manga/⻘年マンガ (Manga für erwachsene Männer) versetzt hat. Welche Konsequenz kann sich aus diesem Transfer ergeben?
Um sich mit dieser Frage zu beschäftigen, wird es zunächst notwendig sein, sich mit dem Begriff dansō-no-reijin auseinanderzusetzen. Dansō-no-reijin ist ein Konzept, welches vom japanischen biographischen Roman entstanden ist und sich danach im Rahmen der shōjobunka/少⼥⽂化 (Mädchenkultur) entfaltet hat. Im Referat wird der Begriff dansō-no-reijin aus einer genderkritischen Perspektive betrachtet und dargelegt, wie dieser im japanischen Diskurs verstanden wurde. Dabei werden vergleichbare Begriffe aus dem westlichen Diskurs gegenübergestellt und die Frage gestellt, worin das Problem bei der Auffassung von dansō-no-reijin besteht und welche Unterschiede es zwischen dem japanischen und dem europäischen Diskurs gibt. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie dansō-no-reijin in der Erzählung des Mangas Mademoiselle Mozart dargestellt wurde. Dabei wird ein Vergleich mit zwei Shōjo-Mangas gezogen; Der Ritter der Schleife von Osamu Tezuka und Die Rosen von Versailles von Riyoko Ikeda, welche als zentrale Werke, die das Konzept des dansō-no-reijin umsetzen, gelten. Beim Vergleich wird dargestellt, wie stark das Geschlecht des jeweiligen manga-ka sich im konkreten Fall auf seine/ihre Betrachtungsweise bei der Beschreibung des Konzepts dansō-no-reijin auswirkt. - Affiliation: Meiji Gakuin University, Japan
Teilnehmer*innen in alphabetischer Reihenfolge
- Vroni Ammann | Universität Zürich
- Yuqi Chen | LMU München
- Alexandra Ciorciaro | Universität Zürich
- Carolin Fleischer | LMU München
- Lisette Gebhardt | Universität Frankfurt
- Hilaria Gössmann | Universität Trier
- Ina Hein | Universität Wien
- Sepp Linhart | Universität Wien
- Michiko Mae | HHU Düsseldorf
- Ronald Saladin | Universität Trier
- Evelyn Schulz | LMU München
- Martin Thomas | Universität zu Köln
- Akiko Yamada | Universität für Musik und darstellende Kunst Wien