In der Vorbesprechung beschäftigten wir uns mit Lesetechniken und sammelten im Anschluss Themenideen fürs Semester. Unsere Reise sollte mit einem politisch brisanten Jubiläum beginnen: Es sind nämlich 50 Jahre vergangen seit der umstrittenen ‚Rückgabe‘ des sonnigen Okinawa. In diesem Kontext setzten wir uns allerdings eher mit den Schattenseiten der Militärbasen auseinander, sowie mit okinawanischen architektonischen Einflüssen auf die benachbarte Insel Tinian.
In der folgenden Einheit beschäftigten wir uns mit nicht-normativen Beziehungs- und Sprachformen von Frauen: Wir lasen ein biografisches Interview mit einer 104 Jahre alten Dame, die in ihrem kleinen Heimatort in Kyūshū eine polygame Dorfstruktur erlebt hatte. Der andere Artikel war eine Übersichtsarbeit über die Entwicklung der Frauensprache – und wie heterogen diese, anders als häufig angenommen, im Laufe der Geschichte wirklich war.
Anschließend behandelten wir erstmals musikalische Themen: Eine Analyse über Hip-Hop-DJ-Wettbewerbe in den Nullerjahren warf die Frage auf, ob japanische Künstler:innen einen Vor- oder Nachteil mit Autoexotismus haben – also, in einer westlich codierten Disziplin traditionell anmutende Einflüsse (wie bspw. shamisen-Samples) zu verwenden. Einen weiteren Sprung in die Zeit zurück machten wir mit einem Buchkapitel über die Urgroßväter der heutigen enka („Schlager“) – Wer hätte gedacht, dass Lieder wie Dainamaito don! im 19. Jahrhundert der Arbeiterklasse als Protestgesang dienten?
Unser nächster Halt führte zurück in die Linguistik, hätte aber politischer nicht sein können: Die Entwicklung der japanischen Standardsprache war ein Kräftemessen zwischen einer gebildeten Elite, die ihre kunstvolle Schriftsprache nicht aufgeben wollte, und einer fortschrittlichen Strömung, die sich durch die Standardsprache eine katalysierende Wirkung Richtung Moderne erhoffte. Weitere Kuriositäten beinhalteten den Vorschlag, als Landessprache Englisch statt Japanisch einzuführen, oder die unterschiedlichen Phasen der Eingliederung von Lehnwörtern
Für die Literatur-Einheit dieses Semesters wählten wir die literarische Gattung ‚Handyroman‘. Mit etwas Mühe – sowohl ob der nur rudimentär verfügbaren Übersetzungen als auch ob des einzigartigen Veröffentlichungsformats – entdeckten wir das bekannte keitai shōsetsu Koizora [Liebeshimmel]. Die pathetische Liebesgeschichte aus der Perspektive einer Oberstufenschülerin ließ uns hinterfragen, was als Literatur definiert werden darf, und welche Bedeutung die verarbeiteten traumatischen Themen denn wirklich verstecken, da sich die Sekundärliteratur in diesem Punkt uneinig ist.
Für unsere Expert:innen-Einheit zum Abschluss hatten wir die Ehre, Marzia Alteno vom Institut für Religionswissenschaften als Referentin zu gewinnen. Wir lernten, wie sich die Rolle und Stellung der Frau in den Religionen Japans im Laufe der Geschichte gewandelt hat, und dass dieses Thema in der bisherigen Forschung weitgehend ignoriert wurde. Hier setzt Marzias Dissertationsprojekt an, denn sie untersucht die Rolle der Ehefrauen in japanischen Neureligionen, von denen manche auch in Wien vertreten sind. Darauf folgte unser traditionelles Semesterabschluss-Essen.
Wir haben uns riesig gefreut, dieses Semester wieder ein paar neue Gesichter in unseren Diskussionsrunden begrüßen zu dürfen und freuen uns auf ein spannendes Sommersemester!
Judith Böhler